Street Art Istanbul: Entlang versteckter Pfade
Istanbuls Kunstszene boomt. Abseits der großen Museen trifft man auf ganze Stadtviertel voller privater Galerien und Pop-Up-Stores. Doch wer in den verwinkelten Gassen genauer hinsieht, der findet das ein oder andere Schmuckstück auch an den rauen Häuserwänden von Beyoglu, Çukurcuma und Kadiköy. Auf der Suche nach der besten Street Art Istanbul.
Unser Istanbuler Stadtrundgang der besonderen Art beginnt am Südende der Istiklal Caddesi in Istanbul, jener alten Prachtstraße, die sich einmal quer durch Beyoglu zieht, von der nostalgischen Standseilbahn Tünel bis zum Taksim-Platz.
Wir treffen auf Kerem, unseren Tour Guide für heute. Schon von weitem ist sein breites Grinsen nicht zu übersehen. Bald erfahren wir auch den Grund dafür: er freut sich schlichtweg darüber, dass sich jemand gegen den klassischen Stadtrundgang entschieden hat und für die alternative Art und Weise, Istanbul kennenzulernen. Mit einem etwa Gleichaltrigen durch die angesagtesten Stadtviertel zu schlendern, statt in einer anonymen Reisegruppe durch den Großen Basar getrieben zu werden, sind Vorzüge, die wir schnell schätzen lernen.
Charme vergangener Zeiten: Die Historische Straßenbahn in der Istiklal Caddesi
Schon geht es los – und die Istiklal Straße entlang gen Norden. Es dauert nicht lange, bis man Kerem sein Know-how in Sachen Street Art anmerkt. Alle paar Meter deutet er mit dem Finger auf ein anderes Kunstwerk, mal in eine dunkle Seitenstraße hinein, mal nach hoch oben an die Häusergiebel. Gleichzeitig sprudelt es nur so aus ihm heraus. Wer der Künstler ist, was seinen Stil unverkennbar macht, wann das Werk entstanden ist oder wie rivalisierende Künstler aufeinander reagieren – wie ein wandelndes Streetart-Lexikon klärt uns Kerem über die alternative Istanbuler Kunstszene auf.
Street Art Istanbul: Künstler verewigen sich mit ihrem Instagram Account
Make Art, Not War: Auch klassische Streetart-Botschaften findet man in Istanbul
Dann biegen wir von der belebten Einkaufsstraße ab und verlieren uns schnell in den engen Gassen. Nur Kerem scheint keineswegs verloren zu sein, im Gegenteil, man hat den Eindruck, er kenne die ganze Gegend wie seine Westentasche. Und diese Weste, die er trägt, ist alles andere als hip, eher könnte sie aus dem Kleiderschank seines Opas stammen. Hip sein definiert sich in den Istanbuler Szenevierteln also scheinbar keineswegs durch Markennamen.
Brooklyn oder Beyoglu? Dieses Motiv entstand nicht in Zusammenarbeit mit Mercedes-Benz
Apropos Marken: Besonders vielfältig und widersprüchlich zugleich zeigt sich die künstlerische Seite Galatas zwischen Taksim und dem Tünel. Wir passieren perwoll-weiße Mercedes, geparkt in Hinterhöfen, die mit ihren knallbunten Graffitis eher an Brooklyn erinnern, dahin drapiert wie für ein Katalog-Shooting. Wir entdecken Häuserwände, geziert von den grimmig dreinschauenden Pandas aus der Spraydose des Visual Artists Leo Lunatic, neben klassischen Streetart-Quotes wie „Make Art, Not War“.
Street Art Istanbul: Die Pandas des Streetart Künstlers Leo Lunatic sind verstreut in der ganzen Stadt
Und natürlich erspähen wir auch hier in Istanbul die Space Invader des französischen Streetart-Künstlers Invader, der bekannt dafür ist, Charaktere aus dem gleichnamigen Shoot-‚em-up-Spiel als Mosaikbilder an Wänden auf der ganzen Welt zu verewigen. Auch finden Höhepunkte der türkischen und osmanischen Kultur in der Streetart in Istanbul ihren Einfluss, wie zum Beispiel der Tanz der drehenden Derwische.
Street Art Istanbul: Um die Space Invaders zu entdecken, muss man schon genauer hinsehen
Während wir so durch die Gegend schlendern, lauschen wir Kerems Erzählungen, die uns einen tiefen Einblick in die Szene geben. So berichtet er von rivalisierenden Street-Art-Gangs, die sich gegenseitig mit Kunstwerken antworten. Oder vom neuartigen Umgang mit Social Media in der Kunstszene. Nämlich dann, wenn Graffitikünstler damit beginnen, ihre Werke nicht nur mit einem Tag zu versehen, sondern auch gleich mit ihrem Benutzernamen bei Instagram. Oder dann, wenn Künstler noch einen Schritt weiter gehen und ihre Kunst an große Marken wie Converse oder Tommy Hilfiger verkaufen. Aus anonymen Künstlern werden Social Media Stars, aus Kunst wird Kommerz. Auch plaudern wir über die Endlichkeit der Werke und über eine Szene die sich, wohl genau aus diesem Grund, immer wieder neu erfindet.
Street Art Istanbul: Ein tanzender Derwisch an einer unscheinbaren Hintertür
Street Art Istanbul: Wann wird aus Kunst Kommerz?
So viele Eindrücke machen müde. Also lassen wir uns in einem Straßencafé nieder, natürlich einem der Lieblingscafés Kerems. Auf Holzhockern, so klein, dass gerade eine Arschbacke darauf passt, genießen wir einen frisch gebrühten türkischen Mokka. Kaffee macht gesprächig, wie wird bald merken. Denn auch unsere Unterhaltung nimmt plötzlich eine unerwartete Wendung, weg von der Kunst, hin zu alltäglicheren Themen wie Beruf, Hobbies und dem Leben in Istanbul im Jahre 2016. Wer hätte gedacht, dass man sich in den zehn Minuten einer Kaffeepause so gut austauschen kann.
Kaffeepause zwischendrin: Türkischen Mokka gibt es in jedem Café
Spätestens jetzt, wo die anfänglichen Startschwierigkeiten Vergangenheit sind, machen wir uns auf den kopfsteingepflasterten Weg hinunter in den Stadtteil Galata und zum Galata Tower. Sogar hier, am so touristischen, alten Teil der Stadtbefestigung, entdecken wir Street-Art, die uns zuvor wohl nie aufgefallen wäre. Plötzlich ergeben sich ganz neue Blickwinkel auf eines der meistfotografierten Sehenswürdigkeiten der Stadt.
Street Art Istanbul: Die Pandas von Leo Lunatic sind Top 10 Graffiti Artist of the year vom Guardian
Thront über der Stadt: Der Galataturm im gleichnamigen Viertel
Ein paar Meter weiter Richtung Hafen hockt es plötzlich vor uns: ein Paradebeispiel der Cats of Istanbul, jener Gattung Katze, die im Internet seit Jahren auf tausende Fans und Bewunderer zählen kann, ja sogar auf eigenen Instagram-Kanälen. Das Exemplar, auf das wir stoßen, besitzt ein elegantes, rotes Fell, sitzt hoch auf einer Mauer und sinniert kafkaesk auf das Goldene Horn hinunter, den Blick hinüber nach Eminönü schweifend. Fast meinen wir, einen melancholischen Ausdruck im Gesicht der Katze erkennen zu können, so perfekt bettet sich ihr Antlitz in dieses Postkartenmotiv.
Cats of Istanbul: die Katzen in Istanbul haben sogar eigene Instagram Accounts und Hashtags
Zurück zur Kunst. Und damit weiter nach Kadiköy, auf die andere Seite der Stadt. An der Galatabrücke, wo die Luft zerrissen scheint vom beißenden Geruch der Fische und den aufdringlichen Rufen der Verkäufer, nehmen wir die Fähre nach Asien. Langweilig wird uns auf der halbstündige Fahrt nicht. Zu unterhaltsam ist das Spiel der Möwen mit den umherfliegenden Brotstücken eines übereifrigen Passagiers. Und zu gut schmeckt der wärmende Çay in der Hand.
Mövengetümmel am Himmel: eine Fährfahrt nach Kadiköy
Kadiköy überrascht uns mit einer ganz anderen Art von Kunst: Riesigen Wall-Murals, also Wandgemälde, die sich teilweise über ganze Häuserfassaden ziehen. Zu unserer Verwunderung war die Idee dahinter ursprünglich eine Initiative der Gemeinde. Im Rahmen des Mural Istanbul Streetart Festivals wurden namhafte Künstler dazu eingeladen, sich mit einem Werk in der Straßen Kadiköys zu verewigen. Entstanden sind gigantische Kunstwerke, die nicht nur liebevoll und in teils tagelanger Kleinarbeit umgesetzt wurden, sondern oft sogar eine dezente Gesellschaftskritik beinhalten. Wie zum Beispiel das Werk des Französischen Illustrators Amose, das eine Flüchtlingsmutter mit ihrer Tochter zeigt.
Gemalte Gesellschaftskritik: Das Schiff des Deutschen Künstlers Dome entstand beim Mural Ist Festival
Street Art Istanbul: das Werk Family von Amose, einem französischen Illustrator
Hier in Kadiköy wird einem die breite Vielfalt der Street-Art erst richtig bewusst. Denn Street-Art kann eben alles sein, vom kleinen, schnell hingesprayten Tag, über den Einsatz von Mosaiktechnik bis hin zu aufwändig gestalteten Wandgemälden.
Street Art Istanbul: Das Mural von Michal Sepe und Daniel Chazme aus dem Jahr 2004
Street Art Istanbul: dieses Werk stammt von Pixel Pancho
Als sich der nahende Abend in den wärmsten Rottönen über den Bosphorus neigt, machen wir uns wieder auf den Weg zur Fähre und hinüber in den europäischen Teil Istanbuls. Was bleibt nach fast sechs Stunden Standrundgang in Istanbul, sind tausende Eindrücke von nicht kommerzieller Kunst im öffentlichen Raum, von langen Gesprächen über deren Vergänglichkeit und die Erkenntnis, dass die alternative Variante eines Standrundgangs vielleicht manchmal die lehrreichere sein kann.
Anekdotique war Gast von Istanbul Tour Studio auf ihrer One Day Street Art Tour. Einen kompletten Reiseführer für die Türkei mit allen Sehenswürdigkeiten und Wissenswertem findet man übrigens im Travellers Archive – ebenso wie einem Reisebericht über das Sumela Kloster an der Schwarzmeerküste und einen ganz besonderen Kochkurs im Türkisch Kochen in Istanbul.
Selbst auf die Suche nach Street Art Istanbul begeben? Lohnenswert ist ein Blick in die App Street Art in Istanbul (iPhone und Android) – sie leitet User mit einer Istanbul Street Art Map nicht nur zu den besten Kunstwerken der Stadt, sondern erklärt auch anschaulich alles Wissenswerte über die Entstehung und dem jeweiligen Street-Artist.
Lieber Clemens
Zurück von meiner 4.Istanbulreise und im ‚Gepäck‘
mit zurück gebracht Fotos von Istanbul habe ich mich zu einer Fotoausstellung entschieden den Räumen meiner Praxis. Mal was anderes als bieder Bilder. Im Flur werden 10 Graffiti- Bilder hängen ja auch die Frida Kahlo!
Gern würde ich näheres erfahren über die Bilder. Könntest du mir allenfalls den Kontakt deines Guides weiterleiten? Bei Interesse schicke ich dir die Bilder per whats up.
Herzliche Grüße von Franziska Barta aus Zuoz im Engadin
PS ich reise auch gern! ??
Sehr schöne Idee Franziska, ich schick dir eine Mail.